Die Psychologie der Entscheidungsfindung (2): Wie Sie die richtige Entscheidung treffen – und vielleicht noch mehr finden
Im ersten Teil dieser Reihe haben wir typische innere Dynamiken beleuchtet, die Entscheidungsprozesse beeinflussen. Heute schauen wir uns an, wie Sie über diese Dynamiken hinausgehen und neue Lösungsansätze entwickeln können.
Da sitzt er mir gegenüber: Thorben, 34 Jahre alt, clever, leidenschaftlicher Techniker in einem mittelständischen Unternehmen, aber mit einer spürbaren Unruhe. Er sagt: "Ich stehe vor einer Entscheidung: Soll ich Techniker bleiben und weiter das machen, was ich eigentlich sehr gerne mache? Oder Teamleiter werden, wie von meinem Chef neulich angeboten und diesen Schritt ins Unbekannte wagen? Ich weiß einfach nicht, was richtig ist."
Vielleicht kennen Sie solche Momente. Sie stehen vor einer wichtigen Entscheidung und haben das Gefühl, dass egal, was Sie wählen, Sie etwas verlieren könnten. Auf der einen Seite lockt die Sicherheit, auf der anderen die Chance, etwas Neues auszuprobieren – aber auch die Angst, vielleicht zu scheitern.
Doch was, wenn es nicht nur diese beiden Möglichkeiten gibt? Was, wenn Sie eine Lösung finden, die Sie so noch nicht gesehen haben?
Das klassische Dilemma: ENTWEDER – ODER
„Bleibe ich Techniker, oder werde ich Teamleiter?“
Auf den ersten Blick scheint es eine klare Wahl zu sein. Beide Optionen haben ihre Reize – und ihre Risiken.
ENTWEDER: Techniker bleiben?
„Ich bleibe bei dem, was ich kann.“ Thorben liebt die technische Tiefe, das Lösen komplexer Probleme und den klaren Fokus auf Ergebnisse. Hier fühlt er sich sicher und so kennen ihn auch die Kollegen. Doch da ist auch die Frage: Werde ich mich auf Dauer langweilen? Bleibe ich stecken?
Wir tragen folgendes zusammen:
Vorteile : Er bleibt in einer Rolle, die er kennt, und kann sich weiter in die Tiefe seines Fachgebiets entwickeln. Der Arbeitsalltag ist kalkulierbar, die technische Expertise wird vertieft, und das Risiko, zu scheitern, ist gering.
Auf der Seite der Nachteile halten wir fest: Die Weiterentwicklung seiner Karriere ist begrenzt, und er könnte das Gefühl bekommen, in seiner Komfortzone zu verharren.
ODER: Teamleiter werden?
„Ich gehe den nächsten Schritt.“ Die Möglichkeit, ein Team zu führen, Verantwortung zu übernehmen und etwas Neues auszuprobieren, klingt aufregend. Aber dann ist da die Unsicherheit: Kann ich das überhaupt? Was, wenn ich als Führungskraft nicht funktioniere?
Wir fassen folgendes zusammen:
Vorteile: Eine neue Herausforderung, die Chance, sich als Führungskraft zu beweisen, und die Möglichkeit, Einfluss auf ein Team und die strategische Ausrichtung zu nehmen.
Nachteile: Er betritt unbekanntes Terrain, verlässt den technischen Fokus und übernimmt Verantwortung, die ihm vielleicht nicht liegt oder Spaß macht.
Die Entscheidung scheint schwer, weil beide Wege gleichzeitig anziehend und abschreckend wirken. Die Wahl wirkt wie ein Dilemma: „Entweder“ er bleibt bei dem, was er gut kann und was ihm Sicherheit bietet, „oder“er wagt den Schritt ins Unbekannte und übernimmt Führungsverantwortung. Was, wenn er sich für die falsche Richtung entscheidet? Was, wenn er sich später wünscht, die andere Möglichkeit gewählt zu haben? Diese Unsicherheiten können lähmen und den Entscheidungsprozess blockieren.
Doch gibt es vielleicht noch eine andere Möglichkeit? Etwas jenseits der scheinbaren Alternativen?
Die versteckte Chance: Was, wenn es mehr gibt als diese beiden Optionen?
Hier kommt eine spannende Idee ins Spiel: Was, wenn die Lösung nicht darin liegt, zwischen Techniker oder Teamleiter zu wählen? Was, wenn es einen dritten Weg gibt, der beide Welten verbindet – oder etwas völlig Neues schafft?
Solche Ansätze nennen wir „Lösungen zweiter Ordnung“. Statt einfach zwischen A und B zu wählen, hinterfragen wir die Frage selbst. Muss es wirklich nur diese beiden Möglichkeiten geben? Oder gibt es eine andere Perspektive, die das Problem in einem neuen Licht erscheinen lässt? Lösungen zweiter Ordnung hinterfragen den Rahmen, in dem die Entscheidung überhaupt getroffen wird. Sie eröffnen neue Perspektiven, die vorher unsichtbar waren, indem sie den Kontext oder die Logik der Problemstellung verändern. Der Fokus liegt darauf, neue Möglichkeiten entstehen zu lassen, anstatt nur zwischen den bestehenden Optionen zu wählen. Aus unseren Fall bezogen, bedeutet es, nicht nur zwischen „Techniker“ und „Teamleiter“ zu wählen, sondern die zugrunde liegende Frage oder den Kontext zu verändern.
Wie entstehen Lösungen zweiter Ordnung?
Um eine Lösung zweiter Ordnung zu finden, schauen wir uns zuerst die Grundlage der Frage an. Bei meinem Klienten im Coaching war klar: Es geht nicht nur darum, was er tun soll, sondern auch, wer er sein will.
Was motiviert ihn?
Warum reizt ihn die Führung? Warum liebt er die Technik? Was gibt ihm Energie – und was zieht ihm Energie?Muss er sich wirklich entscheiden?
Vielleicht gibt es eine hybride Rolle, die er schaffen kann. Eine, in der er sowohl technisches Know-how einbringt als auch Führungsaufgaben übernimmt.
Ein Beispiel aus unserem Coaching
Nachdem wir tiefer eingestiegen sind, entdeckten wir, dass es ihn besonders reizt, Projekte zu gestalten und Menschen zu motivieren – aber ohne seine technische Kompetenz ganz aufzugeben. Die Lösung? Thorben schlägt in seinem Unternehmen eine neue Rolle vor: technischer Projektleiter.
In dieser Position übernimmt er Verantwortung für größere Projekte, leitet kleinere Teams, bleibt aber auch tief in der Technik verwurzelt. Es war eine Lösung, die in seinem Unternehmen vorher gar nicht klar definiert war – bis er sie vorschlug.
Das Beste daran? Er konnte die Rolle ausprobieren, ohne sofort alles hinter sich zu lassen. Mit der Möglichkeit, später vielleicht doch mehr Führungsverantwortung zu übernehmen – oder wieder mehr in die Technik zu gehen.
Wie findet man Lösungen zweiter Ordnung?
Hinterfragen der Ausgangsfrage:
Muss es wirklich eine Wahl zwischen Techniker und Teamleiter sein?
Was ist der eigentliche Wunsch oder das zugrunde liegende Ziel?
Vielleicht geht es gar nicht um die Jobrolle selbst, sondern um das Bedürfnis nach persönlicher Weiterentwicklung, Anerkennung oder einem Gefühl der Sicherheit.
Den Kontext verändern:
Statt sich auf die beiden Optionen zu fokussieren, könnte er eine hybride Rolle suchen, in der er sowohl technische Expertise als auch Führungsaufgaben übernimmt. Zum Beispiel als technischer Berater, Projektleiter oder Mentor für jüngere Kollegen.Experimentieren:
Er könnte den Schritt zum Teamleiter erst einmal in kleinerem Rahmen ausprobieren, z. B. als Stellvertreter oder Projektleiter in einem temporären Team. So kann er herausfinden, ob ihm Führungsaufgaben liegen, ohne die technische Rolle komplett aufzugeben.Seine eigenen Werte klären:
Was ist ihm langfristig wichtiger? Tiefere fachliche Expertise oder die Fähigkeit, Menschen zu führen und ein Team zu gestalten? Die Reflexion über persönliche Werte und Ziele kann helfen, Klarheit zu schaffen.Eine transformative Perspektive entwickeln:
Was wäre, wenn er sich nicht für eine Rolle entscheidet, sondern eine neue Möglichkeit schafft, die es in seiner Organisation vielleicht noch nicht gibt? Zum Beispiel eine Rolle, die auf seine individuellen Stärken und Wünsche zugeschnitten ist.
Die Entscheidungsvarianten im Überblick – Das Tetralemma
Ein nützliches Werkzeug, um Lösungen zweiter Ordnung systematisch zu erarbeiten, ist das Tetralemma, entwickelt von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer. Es basiert auf Prinzipien der indischen Logik und erweitert das klassische Entweder-Oder-Denken um mehrere Dimensionen. Hier ist eine Übersicht der Entscheidungsvarianten:
Entscheidungsvarianten des Tetralemmas in der Übersicht
Wie das Tetralemma im Coaching angewendet wurde
In meinem Coaching haben wir mit meinem Klienten diese Perspektiven durchdacht:
Techniker bleiben (Option 1): Die sichere und tief vertraute Wahl, die ihm technische Tiefe und Stabilität gibt.
Teamleiter werden (Option 2): Der mutige Schritt ins Unbekannte, mit neuen Herausforderungen und Risiken.
Eine hybride Rolle finden (Option 3): Er entwickelte die Idee, als technischer Projektleiter zu arbeiten, was beides verbindet: technische Expertise und Führungsaufgaben.
Etwas ganz Neues (Option 4): Wir prüften, ob eine externe Weiterbildung oder eine andere berufliche Neuausrichtung für ihn in Frage käme.
Transformation des Kontextes (Option 5): Er reflektierte darüber, was ihm wirklich wichtig war – unabhängig von der Frage nach der Jobrolle. Dabei erkannte er, dass Sinn und persönliche Entwicklung für ihn entscheidender waren als der Titel.
Warum Lösungen zweiter Ordnung so kraftvoll sind
Lösungen zweiter Ordnung öffnen Türen, die zuvor unsichtbar waren. Sie hinterfragen den Rahmen des Problems und erlauben, etwas völlig Neues zu schaffen. Statt sich zwischen zwei Alternativen zu entscheiden, wird der Kontext verändert oder die Perspektive erweitert. Vielleicht stehen Sie gerade selbst vor einer Entscheidung. Hier sind ein paar Fragen, die helfen können, eine Lösung zu finden:
Die Schritte zu einer Lösung zweiter Ordnung:
Reflexion: Warum fällt die Entscheidung schwer? Was liegt der Frage wirklich zugrunde? Was will ich wirklich? Geht es mir beispielsweise um Sicherheit, Anerkennung, Weiterentwicklung – oder etwas ganz anderes?
Hinterfragen: Sind die gegebenen Alternativen tatsächlich die einzigen Möglichkeiten? Muss ich zwischen A und B wählen? Oder gibt es eine Möglichkeit, die Stärken beider Optionen zu verbinden?
Kreativität: Welche neuen Optionen könnten entstehen, wenn man das Problem anders betrachtet?
Experiment: Klein anfangen, neue Wege testen und aus den Erfahrungen lernen. Wie könnte ein kleiner Schritt aussehen? Gibt es eine Möglichkeit, die neue Richtung auszuprobieren, ohne gleich alles zu riskieren?
Transformation: Den Mut haben, den Rahmen zu verändern und etwas Neues zu schaffen. Welche Rahmenbedingungen kann ich ändern? Vielleicht liegt die beste Lösung nicht in der Wahl selbst, sondern darin, den Kontext zu verändern.
Fazit: Die Entscheidung neu denken
Die Frage „Techniker oder Teamleiter?“ muss nicht in einem klassischen Dilemma enden. Indem wir die zugrunde liegende Problemstruktur hinterfragen, können Lösungen entstehen, die nicht nur passend, sondern auch transformativ sind. Oft liegt die beste Lösung außerhalb der ersten Alternativen – in einer Kombination, einer neuen Perspektive oder sogar einer kompletten Veränderung des Rahmens. Für den Mann in meinem Coaching könnte der Schlüssel darin liegen, sich nicht zwischen seinen Stärken und neuen Herausforderungen zu entscheiden, sondern eine Lösung zu finden, die beides vereint – oder sogar etwas völlig Neues erschafft.
Die wichtigste Erkenntnis: Manchmal ist der beste Weg nicht „Entweder-oder“, sondern „Über beides hinaus“.
Wissenschaftliche Basis: Was sind Lösungen zweiter Ordnung?
Der Begriff „Lösungen zweiter Ordnung“ stammt aus der systemischen Therapie und der Kybernetik. Forscher wie Gregory Bateson und später Paul Watzlawick haben gezeigt, dass Probleme oft nicht durch direktes Eingreifen gelöst werden können, sondern durch einen Wechsel des Systems oder des Kontextes, in dem das Problem auftritt.
Lösung erster Ordnung: Veränderung innerhalb des bestehenden Systems. Beispiel: Mehr Effizienz in einem Konfliktprozess.
Lösung zweiter Ordnung: Veränderung des gesamten Systems oder der zugrunde liegenden Annahmen. Beispiel: Das Konfliktthema wird irrelevant, weil sich die Perspektive komplett verändert.
Watzlawick beschreibt dies in seinem Buch „Lösungen: Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels“ als einen Wechsel der Logik: Probleme entstehen oft aus der Logik eines Systems, und ihre Lösung liegt in der Veränderung dieser Logik.
Merkmale von Lösungen zweiter Ordnung:
Systemischer Kontextwechsel: Das Problem wird nicht innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen gelöst, sondern durch eine Veränderung des Rahmens.
Kreative Emergenz: Neue Möglichkeiten entstehen durch Perspektivwechsel, Innovation und Loslassen von bisherigen Denkmustern.
Unverhaftetheit: Es wird keine Partei ergriffen; stattdessen wird das Problem auf einer anderen Ebene transformiert.
Haben Sie Fragen oder möchten Sie Ihre Entscheidung reflektieren? Als Coach unterstütze ich Sie dabei, Ihre Ziele klar zu definieren, individuelle Lösungen zu entwickeln und Ihre persönliche Weiterentwicklung zu fördern. Gemeinsam finden wir die beste Entscheidung für Ihre Situation. Kontaktieren Sie mich für ein individuelles Coaching.
Quellen
Watzlawick, P., Weakland, J., & Fisch, R. (1974). Lösungen: Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels.
Sparrer, I., & Varga von Kibéd, M. (2023). Ganz im Gegenteil – Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen. Karl-Auer-Systeme-Verlag, 12. Auflage. ISBN: 978-3-8497-0515-2
Bateson, G. (1972). Steps to an Ecology of Mind.
Schlippe, A., & Schweitzer, J. (2016). Systemische Therapie und Beratung.